Ein Stechlin aus Österreich

Gerald Szyszkowitz' erster Roman / Von Diethelm Brüggemann

 

 

Der österreichische Autor Gerald Szyszkowitz präsentiert mit „Der Thaya“ seinen ersten Roman. Anders als man es beim epischen Debüt eines - allerdings nicht mehr jugendlichen - Schriftstellers erwarten könnte, wird jedoch keine jener Krisen zum Thema gewählt, die als Angst, Aussteigen, Selbsthaß oder „midlife crisis" inzwi­schen ein gewisses Renommee erlangt haben, sondern Szyszkowitz   versucht sich an der nichtautobiographischen Studie über die letzten Monate eines al­ten Herrn, eben des Thaya.

Nun könnte das natürlich ein Thomas Bernhardscher alter Mann sein, der am Ende eines elenden Lebens in monoto­ner Beharrlichkeit sich aus Worten ei­nen Strick dreht. Doch nein, er ist ein relativ heiterer, ein gelassener alter Mann, ohne jede Sehnsucht nach Selbstvernichtung. Handelt es sich denn wenigstens um einen alternden Revolutionär, oder, besser noch, einen altern­den Schriftsteller? Auch das nicht: der Thaya ist Gutsbesitzer.

Es ist nicht ohne Reiz, ab und an zu fragen, was ein Roman nicht ist, welche Probleme, welche Themen ein Autor bewußt übergangen hat. Das ist zwar kein Qualitäts-Test, aber es schärft doch den Blick für die persönliche Son­derleistung.

Der Thaya also: eines der letzten Ex­emplare der aussterbenden Spezies österreichischer Grundherren. Sein „al­ter Kasten" steht in einer abgelegenen Weltecke: im nördlichen Waldviertel, an der mährischen Thaya, direkt an der Grenze zur Tschechoslowakei. Die Welt des alten Thaya und die Welt seines Sohnes, eines Beamten in einem Wiener Ministerium, werden miteinander kon­trastiert. Der junge Thaya hat seine Probleme mit der Liebe; der Alte ver­sucht Rat zu erteilen mit den guten al­ten Maximen; der Junge schwankt poli­tisch zwischen der Bewunderung für einen sozialistischen Freund und der alten Welt; der Alte läßt sich als Kan­didat für die „Konservativen" aufstel­len und scheitert schon kläglich nach seiner ersten, peinlich mißglückten Re­de.

Die beiden Damen aus Wien, zwi­schen denen sich der Junge nicht ent­scheiden kann, Mutter und Tochter, er­freuen sich der besonderen sprachli­chen Schilderungskunst des Autors — und die Mutter noch dazu der späten Zuneigung des alten Thaya. Die Figu­ren des Hintergrundes geben dem Kon­trast die Tiefendimension: Pfarrer, Dorflehrer, Bürgermeister, Heimatfor­scher, ein reaktionärer Baron und des­sen nicht unzugängliche Gattin, sowie auf der Wiener Seite die ein wenig exo­tischen und leicht lebenden Verehrer der beiden Damen.

Dies alles jedoch erscheint nur wie hingetupft. Da ist viel weggelassen. Die Handlung besteht darin, daß zum Schluß der Alte stirbt und der junge Thaya doch noch heiratet — und zwar die Jüngere —, im Ministerium kündigt und das Gut übernimmt.

Das wäre also nicht viel — und doch ist es viel: der Roman hinterläßt einen starken, lange nachklingenden Ein­druck. Er ist eine herbstliche — melan­cholisch wäre zu viel gesagt — Impres­sion, ein liebevoller Abgesang auf un­widerruflich Vergehendes, wobei gera­de auch die paar kessen, ja schnoddri­gen modernen Klänge geschickt Akzen­te setzen. Einige schrille Töne verhin­dern zudem, daß man diese Welt mit der heilen verwechselt. Vor allem der offene Schluß mit dem unvermittelten Hinweis auf das mögliche Scheitern der jungen Ehe gehört dazu, aber auch die beständige Präsenz des Politischen, die von den Tschechen scharf bewachte Grenze, hinter der in Krisensitua­tionen die Panzer ihre Runden dre­hen, sowie die Unruhen in Polen, die kurz gestreift werden.

Der Roman ist aber noch mehr: er ist eine einzige Paraphrase des Fontane­schen „Stechlin", dessen Titel überflüs­sigerweise tatsächlich genannt wird — mit sympathischen und treffenden Worten allerdings. Von Anfang bis En­de tastet sich der Autor mit zuweilen wörtlichen Anklängen (so schon mit dem Beginn des ersten Satzes) an der Ereignis- und Motivkette des Fontane­schen Altersromans entlang. Nicht nur dies; auch Motive aus „Schach von Wuthenow" hat Szyszkowitz aufgegriffen, die tragische Mutter-Tochter-Konstellation beispielsweise, die er geschickt ins Leichte, Komödienhafte wendet und so mit der Geschwister-Konstellation Armgard/Melusine aus dem „Stechlin" verbindet.

Aus „Effi Briest" erkennt der Fontane-Liebhaber ebenfalls einiges wieder und findet sich dann sogar, einmal hell­hörig geworden, im weiten Feld litera­rischer Verweisungen: Katharina bezie­hungsweise Käthchen, der Name der Braut, ist ein Zitat im Zitat — für den, der sich an die Aufführung der Kleist‘schen Holunderstrauch-Szene in „Effi Briest" erinnert. Und sollte es ein Zu­fall sein, daß einer der Verehrer der beiden Damen Jean-Paul Friedrich heißt?

Eigenartig: solche literarische Raffi­nesse hätte leicht zur störenden manieristischen Monstrosität werden können — aber sie wird es nicht, und das spricht für des Autors sowohl behutsa­me als auch präzise Kunst. Der Roman atmet den Geist Fontanes, ohne daß et­wa Fontanes Stil imitiert würde. Szyszkowitz erzählt auf durchaus eigene Weise, und es wäre wohl eine hübsche und lohnende Aufgabe, einmal genau zu untersuchen, wie er das macht.

Der Roman öffnet, ohne daß er viel Aufhebens davon machte, den Blick auf einen weiten Horizont: auf die gar nicht immer gemütliche Lage eines ehemals geschichtsmächtigen, nunmehr in eine „neutrale" Windstille geratenen Landes zwischen den Traditionen und den politischen Eruptionen, aber auch auf die fortwährende Wirksamkeit je­ner österreichischen Kunst, die im vor­sichtigen, behutsamen, subtilen Um­gang mit der in langer geschichtlicher Erfahrung zu viel-facettierter Nuancie­rung gereiften Sprache besteht Nicht zuletzt aber kündet er von der nur auf den ersten Blick erstaunlichen österrei­chischen Wertschätzung des Preußen Fontäne, eine Verehrung, wie sie ja auch schon Hofmannsthal kannte.

Gerald Szyszkowitz: „Der Thaya". Roman. Paul Zsolnay Verlag, Wien 1981. 224 S.,