Gerald Szyszkowitz

Das falsche Gesicht

Oder Marlowe ist Shakespeare

Roman mit Nachwort von Erich Schirhuber

Edition Roesner, Krems, 2015, 174 Seiten

ISBN 978-3-903059-0106

 

„‘Gibt es ein Bild von ihm‘? - ‘Nein, leider’. - ‘Gut, dann machen wir uns eins’. –

‘Ein falsches Bild’? - ‘Na sicher. Und das bleibt dann für alle Ewigkeit sein Abbild, weil es kein anderes gibt’.“ (S. 165)

 

Schlägt man im Google folgende Frage auf: „Ist Marlowe Shakespeare?“ finden sich zwanzig voluminöse und elaborierte Artikel, die nachweisen, dass ab 1819/20, 1895, 1923, 1925, 1952, 1955 bis 1994, 2001, 2008, 2011 dieses Thema hochrangig traktiert wird mit dem nunmehrigen Ergebnis, dass biographisch-chronologische, themenanalytische und stilmorphologische Studien starke Indizien für die sogenannte „Marlowe-Theorie“ liefern. Der stärkste Beleg scheint mir in der Titelseite von „Venus und Adonis“, des ersten Druckwerks unter dem Autorennamen William Shakespeare von 12.6.1593 zu liegen: Zwei lateinische Zeilen entstammen der 15. Elegie von Ovid (die den Tod des Dichters besingt!), die Marlowe in früheren Jahren ins Englische übersetzt hatte – der freilich nun offiziell seit 31.5.1593 tot ist… theoriegemäß jedoch nach Frankreich emigriert, um sich den lebensbedrohlichen Nachstellungen des Hofs der Elisabeth I. zu entziehen. Das lateinische Buchmotto zu „Venus und Adonis“ sei somit ein fast wörtlicher erster Gruß aus dem rettenden Jenseits. Die epische Versdichtung nach einem Motiv des 10. Buchs der Ovidschen Metamorphosen stamme logischerweise von Christopher Marlowe, der sich des Namens William Shakespeare nur bediente, um in der sicheren Ferne anonym weiterdichten und publizieren bzw. am Theater präsent sein zu können… 

       

Was Gerald Szyszkowitz vorlegt ist freilich ein Roman – und es fällt mir leicht, die Überzeugung zu wiederholen, dass diese Kunstgattung, wenn sie wohl informiert und tief inspiriert gepflegt wird, die Königsdisziplin für den Zugang zu ganzheitlicher, schicksalhafter, weil unvergesslicher persönlicher Wirklichkeitsgewinnung und Wahrheitserfassung ist. In lebendiger und – ja! – unterhaltsamer Weise samt aktueller Redeweise („Und kein Schwein hat in London jemals offiziell etwas von dem Deal erfahren.“) lässt uns Szyszkowitz seine jüngste Reise an die Orte des Geschehens mitmachen. Unvermittelt finden sich die gebannt Lesenden zwischen aktuellen Fachgesprächen mit Bibliotheks- und Museumsleitern und drastischen Zwiegesprächen mit farbig geschilderten Personen aus den zeitgenössischen englischen politischen, konfessionellen (1. Generation nach Heinrich VIII.!), literarischen, gesellschaftlichen  Vorgängen des 16. Und 17. Jahrhunderts. Spritzigste Dialogprosa! Bei aller Urteilsschärfe des Autors blitzt stets seine dichterische Menschenfreundlichkeit, universelle Empathie durch die Erzählungen. Hier einige Proben:                 

„Christopher Marlowe ist als Sohn eines Schusters… zugewandert… spricht nicht nur ein raffiniertes Englisch, sondern auch Griechisch, Latein, Französisch und Italienisch… Hatte Freunde unter den wichtigsten Männern des Königreichs, die ihn immer noch schätzten, obwohl er mittlerweile ein stadtbekannter Atheist geworden war. Aber er hatte eben Charme…“ Dagegen „William Shakspere (sic!) … junger Mann, ländlich gut genährt, mit mildem Blick und der sanften Nachgiebigkeit jener Menschen, deren Seele wohlverpackt in einem unauffälligen Köper ruht. Er sprach weder Griechisch noch Latein, sondern nur eine Art Handwerker-Englisch… besorgte Kostüme und Requisiten, verkaufte Eintrittskarten, organisierte Theaterzettel. Marlowe war ein Star in den Londoner Theatern, der andere nur ein ‘Mädchen für alles’.“  (S. 19/20)

 

„‘Schäkspa’, sagt er und lacht. Das klingt wie Plumpsklo! Wenn du in dieser Stadt Karriere machen willst, das sag ich dir gleich, musst du dich … Shakespeare nennen’ … er singt es fast, ‘das hat Musik, da hört man hin. Das klingt schon mehr nach Theater, Parfüm und…’“ (S. 29)

„‘Stücke schreiben. Das Einzige, was ich kann, soll ich jetzt nicht mehr machen’. - ‘Das geht wirklich nicht’! – ‘Außer duschreibst sie’. – ‘Ich kann nicht schreiben. Ich kann nur streichen’. - ‘Na gut, dann schick ich dir meine Stücke aus Calais durch einen Boten, du streichst sie ein … und dann führst du meine Stücke auf als richtige Shakespeare-Stücke’.“   (S. 61)

Obige drei Proben repräsentieren den Inhalt dieses Buches. Aber auch schon die Art von dessen Abhandlung. So etwa im Gespräch Marlowes mit der Druckerin, die gern ans Theater möchte: „‘Ja, gut, also, zeig mir deine Beine’. - ‘Meine Beine? Wieso? Was haben meine Beine mit der Rolle zu tun’? ‘Enorm viel. Theater ist nicht nur Wortwitz! Theater ist sinnlich! Und wenn mir deine Beine gefallen, werden sie auch dem Publikum gefallen …’(S. 53)

Über deren Druckerei äußert sich der Maler-Dichter Szyszkowitz so: „Durch die offenen Fenster duftet es an dem Tag schon nach Frühling, auch eine vorbeifliegende Möwe scheint ihn zu verkünden, aber hier herinnen ist es noch winterlich feucht, und es riecht auch etwas streng nach Tinte und den geölten, kleinen Bleibuchstaben.“ (S. 22)

Aber auch zeitlos das Gefühlsleben Bestimmendes findet sich: „Ich bin einer, der ständig seinen großen Lieben nachtrauert, während er neue anzettelt, ich übe mich immer noch in melancholischen Abschieden, während ich schon neue Sehnsüchte spüre, die ich aber sogleich verwünsche, schon in dem Moment, in dem ich mich wieder verliebe.“ (S. 51)

Unvermeidbar allerdings zwingt die Bearbeitung solchen Stoffs, dessen durchaus kultur- und literaturgeschichtliche Wichtigkeit gar nicht zu überschätzen ist, zu den tiefsten Reflexionen seiner Protagonisten. Dieses Buch scheut deren Bewältigung nicht:  „‘Nein, sterben will ich, schlafen, nichts weiter! Ich will nur sicher sein, dass dieser Schlaf dann auch wirklich das Ende ist von allem! … Darum trink ich. Nicht aus Angst vor dem Tod, nein aus Sehnsucht nach dem Tod’, sagt Marlowe leise.“ (S. 126/127)

„Er weiß manchmal nicht einmal mehr, wogegen er anschreiben soll, denn alles … ist unüberschaubar geworden. Und auch so unwichtig gegenüber diesem Wissen, dass er… alles verlieren wird, jede…Hoffnung.“(S 128)

„Nur etwas weiß er … dass sein ‘König Lear’ ein Koloss an Verzweiflung und Wahrheit ist … und immer noch der treffendste Beitrag zur Erklärung der Welt.“ (S. 129)

„Die tägliche Frage ist beantwortet, ob das, was ich geschrieben habe, ein Beitrag zur Erkenntnis der Welt ist… Alles ist mittlerweile klar, dass ich diese Stücke geschrieben habe und nicht mein Freund, der Wollhändler.“ (S 156)

Zuletzt beantwortet der Autor indirekt eine unausgesprochene Frage an ihn:

„‘In einem dieser Stücke, die wir jetzt drucken werden, gibt es übrigens einen Sir Tobie, Marlowe. Ist das ein Selbstporträt’? - ‘Partiell.’“  (S. 162)

Ja, ganz richtig. Und großartig. Wie es geschrieben wurde, so ist es.

Ein Lesegenuss, Bildungsgewinn und Humanisierungsschub…

 

Matthias Mander