Veröffentlicht von Anja Schmidt

28. Februar 2022 Theater

Freie Bühne Wieden: Auf Spurensuche in einer Grazer Familiengeschichte

 

„Ein Sommernachtstraum am Wörthersee oder Wann ist die Familie Lustig aus Graz verschwunden“ lautet der nicht allzu bündige Titel von Gerald Szyszkowitz’ neuem Stück, das in der Freien Bühne Wieden seine Uraufführung erlebt hat und vom Autor selbst in Szene gesetzt wurde.

Der Werkname weckt freilich Assoziationen zu einem Komödienstoff, macht aber zugleich neugierig. Und schnell erfährt das Publikum, dass es doch nicht so beschaulich zugehen wird in der Kärntner Ferienidylle. Der Inhalt des Stücks ist einigermaßen komplex: Als großes Überthema geht es um die (individuelle) Erinnerung und die (gemeinschaftliche) Verdrängung jener Geschehnisse, die das Jahr 1938 hierzulande prägten. Szyszkowitz verwebt eindringlich, aber subtil das Kleine mit dem Großen und stattet seine Charaktere entsprechend aus. Spannend ist es anzusehen, welchen inneren Wandel die Figuren auf der Bühne innerhalb von nur zwei erzählten Tagen durchleben.

Sommerresidenz in Maria Wörth als Schauplatz der Handlung

Die Geschichte beginnt mit einem dramaturgischen Kniff: Felix, genannt Fehsi, von Reininghaus, seines Zeichens ambitionierter Filmemacher, führt als Erzähler das Publikum in die Handlung ein. Der selbst ernannte Freund der Familie Puntigam, deren Sommerresidenz in Maria Wörth Schauplatz der Handlung ist, möchte eine TV-Serie über eben diese drehen und nervt alle Beteiligten mit seiner Videokamera, mit der er seine Einblicke festhalten will. Mit der Dame des Hauses, Lore, verbindet ihn eine schon länger andauernde Affäre. Deren Gatte, Hans-Jörg, ist Alleinerbe und Chef der gleichnamigen Grazer Mühle, die allerdings mehr den Banken als der Familie selbst gehört. Zur Runde stößt Hans-Jörgs jüngerer Halbbruder Sascha, Mediziner und gerade aus Peking zurückgekehrt, der sich auf ein Wiedersehen mit seiner verflossenen Liebe Helma freut. Diese wiederum stammt aus einer altösterreichischen Emigrantenfamilie und leitet das Hebräisch-Institut der Catholic University in Washington DC. Helma, als Jüdin und Intellektuelle, muss aber erst klären, was es mit der einstigen Arisierung des Vermögens der Familie Lustig (und dem heutigen Besitz des Puntigam-Clans) auf sich hat, bevor sie gegebenenfalls dem Ruf ihres Herzens folgen könnte. Die Familie Lustig lieferte einst Getreide an die Puntigam-Mühle, ehe sie im Jahre 1938 fliehen musste und ihr Eigentum arisiert wurde. Eher zufällig stößt auch noch der junge Osama aus Gaza zu dem Familientreffen, jener real existierende Held der Terrornacht von Wien im November 2020, der  einem angeschossenen Polizisten das Leben gerettet hat. Osamas Erlebnisse in Österreich (seiner Familie wurde der Kauf eines Hauses im Weinviertel versagt) werden für Helma zur Bewährungsprobe für ihre Beziehung zu Sascha.

Vermeintliches Sommeridyll vor blauem Himmel

Freie Bühne Wieden: Wilhelm Prainsack in „Ein Sommernachtstraum am Wörthersee“ 

Das Ensemble agiert vor einer Leinwand, die ein Sommeridyll mit blauem Himmel andeutet, dazu bildet ein Boot mit Lichterkette das Zentrum. Sitzgelegenheiten, Schilf- und Grünpflanzen sowie beleuchtete Lampions schaffen eine nur vermeintlich gemütliche Atmosphäre (Bühne: Gerald Szyszkowitz/Stefanie Gutmann/Michaela Ehrenstein, Kostüme: Babsi Langbein). Anita Kolbert gibt eine selbstbewusste Lore Puntigam, deren scheinbar unerschütterliches Fundament bald zu bröckeln beginnt. Wilhelm Prainsack stellt ihren Liebhaber, Filmemacher Fehsi, mit Kärntner Dialekt und einer großen Dosis Forschheit dar – er hinterfragt als Außenstehender kritisch, wie die Familie Puntigam zu ihrem Besitz gekommen ist. Freie Bühne-Prinzipalin Michaela Ehrenstein mimt eine konsequente, entschlossene Uni-Professorin Helma, die nicht über ihren Schatten springen will, solange Sascha eine Konfrontation mit den historischen Tatsachen scheut. Ehrenstein verleiht Helma, die Deutsch als jüdische Amerikanerin über ihre Mutter gelernt hat, einen besonderen Akzent, den sie bemerkenswert gut durchhält. Robert Ritter verleiht seinem Sascha eine berührende Zerrissenheit zwischen der Zuneigung zu Helma und seinem Unwillen, sich mit seiner Familiengeschichte zu befassen. Ralph Saml gibt den abgeklärten Patriarchen Hans-Jörg, der sich mit der finanziellen Unbill regelrecht abgefunden hat und seine Gattin Lore vor vollendete Tatsachen stellt. Claudio Györgyfalvays Auftritt als Osama prägt sich ein, in seiner Erzählung entdeckt Helma Parallelen zu ihrer eigenen Familiengeschichte. Allen Charakteren ist gemein, dass sie, obwohl sie unterschiedliche Standpunkte vertreten, vielfältige Facetten aufweisen und niemals eindimensional erscheinen. Über all diese Geschehnisse legt Béla Fischer eine stimmungsvolle Klangkulisse, wenn er am Klavier oder auf der Violine begleitet.

„Und was ist der Kernpunkt?“ fragt Helma Filmemacher Fehsi unter vier Augen. „Der Kernpunkt ist die Verdrängung“, antwortet dieser. „Es verliert sich jede kritische Erinnerung.“ Das Programmheft zum Stück offenbart aufschlussreiche Details zur Entstehung des Stücks – so erfährt die Leserin/der Leser beispielsweise, dass die Mutter des Autors tatsächlich im Jahre 1938 der Familie Lustig in Graz einen vierarmigen Kerzenleuchter abkaufte, der dann jahrzehntelang im Hause Szyszkowitz zu Weihnachten aufgestellt und geschmückt wurde.

 

Wer sich auf Spurensuche durch ein Stück Zeithistorie anhand einer beachtenswerten Auseinandersetzung mit einer Familiengeschichte begeben möchte, dem sei ein Besuch in der Freien Bühne Wieden wieder einmal sehr ans Herz gelegt!