Die Wiener Dramaturgie - 9. Stück


Gerald Szyszkowitz

 

DIE WIENER DRAMATURGIE

 der Freien Bühne Wieden, neuntes Stück, am 16. Oktober 2007.

 

WAS IST EIN DRAMA? UND WIE WIRD ES GEBAUT?

 

1. Lessing schreibt im 38. Stück seiner ´Hamburgischen Dramaturgie´ am 8. 9. 1767: "Nichts empfiehlt Aristoteles dem Dichter mehr als eine gute F a b e l ."

 

2. Vor allem aber: Wie jeder Motor braucht jede gute Fabel ein "T r i e b w e r k" ... In unserem Stück S c h m i e r g e l d von der W a f f e n l o b b y n a c h F r i e d r i c h v. S c h i l l e r haben wir das Triebwerk, also den ersten Konflikt, schon in der ersten Szene: Der junge Karl will die Tochter des neu ernannten Ministers heiraten, aber dessen Sekretär Fuchs will das auch.

 

3. Der nächste Punkt, der Lessing interessiert, ist schon ganz am Anfang das E n d e . Die "Reinigung der Seele"... Der Mensch ist Mitglied einer Gemeinschaft, eines Stammes, einer Gruppe, einer Nation, und die Identität einer Gesellschaft beruht auf gemeinsamen Sitten und Begriffen, einer gemeinsamen Sprache, gemeinsamen Legenden und Mythen, Gesetzen und Umgangsformen. Der "Gute" in unserem Stück - der junge Karl - hält sich in seinem Kampf um die Tochter des Ministers an die vertrauten Umgangsformen, Herr Fuchs dagegen, der Böse, nicht. Der lügt und betrügt, aber man kommt ihm auf die Schliche, und deswegen fühlen wir uns "kathartisch gereinigt", wenn sein Lügenspiel am Ende endlich auffliegt.

 

4. Auch die Tänze der Indianer um den Totempfahl, die Hochzeitszeremonien in den verschiedenen Kirchen und Standesämtern, aber auch alle die unterschiedlichen Begräbnisse auf den Friedhöfen rund um die Welt, die Fernsehgemeinschaftserlebnisse bei einer Krönungszeremonie oder die Fanfaren bei den Olympiadeeröffnungen, kurz, alle Rituale haben immer etwas wesensmäßig Theatralisches, aber umgekehrt ist das Theater immer auch ein Gemeinschafts-erlebnis. Das in unserer Tradition meist einen H e l d e n hat.

 

5. In unserem Stück ist der Sektionschef Neuwirth, Karls Vater, dieser Held, der auch auf die Gefahr hin, entlassen zu werden, gegen die "schamlosen Intrigen" des Kollegen Fuchs öffentlich auftritt. Die beiden rufen sehr unterschiedliche Gefühle in uns wach ... Die Geschicklichkeit des Kollegen Fuchs erweckt unsere F u r c h t , die Gefährdung des Sektionschefs unser M i t l e i d .

 

6. Wir erleben im Theater immer wieder "erhebende Gefühle". Sogar wenn Hamlet stirbt. Weil er ja seine Niederlage "mit Würde" trägt. Und auch den Mord, den Woyzeck begeht, begreifen wir letztlich als seinen ganz persönlichen Protest gegen die Manipulation. Diese "A u t o n o m i e des Menschen im entscheidenden Moment" ist ein wesentliches Merkmal des abendländischen Dramas.

 

7. Nun zum BAUPLAN . Jedes Stück beginnt mit einer E x p o s i t i o n, die sofort die Aufmerksamkeit des Publikums erwecken muss. Bei unserem Stück ist das der Moment, in dem der Darsteller des jungen Karl schon in der ersten Szene sagt, dass er ein "Liebeslied" schreibt ... Aha, denken die neugierigen Zuschauer: "Für wen schreibt er das wohl?"

 

8. Nachdem diese erste Handlung, also die Liebesgeschichte eingeführt ist, wird sofort eine z w e i t e H a n d l u n g angedeutet, denn der hinterhältige Herr Fuchs sagt, der Sektionschef Neuwirth, der Vater des jungen Karl, wisse wohl noch nicht, dass er demnächst in Frühpension geschickt werde.

 

9. Diese Mitteilung erweckt gleich wieder die N e u g i e r d e des Publikums: "Wie wird der Herr Sektionschef denn auf diese radikale Änderung seines Lebens reagieren?" Und tatsächlich, schon in der nächsten Szene sagt der Herr Sektionschef prompt, dass er das doch sehr überraschend fände, dass gerade dieser Kollege Fuchs was von "Schmiergeldzahlungen" angedeutet habe ...

 

10. In der folgenden Szene kommt es zum e r s t e n H ö h e p u n k t . Neuwirth wird sehr persönlich und sagt dem Kollegen Rauch, er wittere hinter dem Plan, ihn in Frühpension zu schicken, eine Intrige des Kollegen Fuchs, der ja immer schon Sektionschef habe werden wollen, aber selber sicher "mehr von diesen Schmiergeldern wisse als alle anderen hier im Haus". Er werde mit dem Minister reden.

 

11. Damit ist das zweite Thema des Stückes etabliert: Neben der Liebe geht es hier um handfeste "Intrigen am Arbeitsplatz"; nun muss der H a n d l u n g s h a u p t b o g e n die Frage beantworten: Wird dem Kollegen Fuchs seine Intrige gelingen? Geht Sektionschef Neuwirth tatsächlich gegen seinen Willen in Frühpension - oder doch nicht?

 

12. Der Antwort auf diese Frage des Haupthandlungsbogens wird das Publikum nun in den nächsten sieben Bildern immer näher kommen; wobei aber jede einzelne Szene wieder unbedingt einen eigenen S z e n e n b o g e n haben muss; mit eigener Exposition, eigener Peripetie und eigener Auflösung.

 

13. Die P e r i p e t i e ist immer der Moment, in dem die Handlung sich anders entwickelt, als alle das erwarten.

 

14. Im 5. Bild kommt es zum z w e i t e n H ö h e p u n k t , denn die von uns erwartete öffentliche Auseinandersetzung unter den Kollegen in Anwesenheit des Ministers gewinnt ganz gegen die Erwartung aller der Kollege Fuchs.

 

15. Nun muss der Kollege Neuwirth selbst eine G e g e n i n t r i g e erfinden, die zur endgültigen Entlarvung des Lügners führen soll. Und damit auch zur Hochzeit des Liebespaares.

 

16. Jede Szene muss immer z w e i A u s g a n g s m ö g l i c h k e i t e n haben!

 

17. Und: Unser Held darf sich trotz aller t a k t i s c h e n K u r z z i e l e in den einzelnen Szenen jetzt nicht mehr von seinem s t r a t e g i s c h e n H a u p t z i e l ablenken lassen.

 

18. Die beiden in sich verflochtenen Handlungen nähern sich nun im ständigen Wechsel von Tempo und Rhythmus der letzten Auseinan-dersetzung, und dieser d r i t t e Höhepunkt bringt dem Sektionschef Neuwirth dann endlich den Sieg, dem entlarvten Fuchs aber die K a t a s t r o p h e .

 

19. Ein letzter Lessing-Ratschlag: Auch der Dialog muss wie die Handlung immer wieder überraschend sein! Und die Charaktere dürfen nie nur durch das, was sie sagen, charakterisiert werden, sondern vor allem durch das, was sie tun!