Die Wiener Dramaturgie - 4. Stück


Gerald Szyszkowitz

 

DIE WIENER DRAMATURGIE

 der Freien Bühne Wieden, viertes Stück, am 17. Oktober 2006

 

Wieder nehme ich Bemerkungen von Lessing über Liebe und Geister zum Anlass, um über unsere eigene Uraufführung nachzudenken. Lessing schreibt in seiner 'Hamburgischen Dramaturgie' über das Stück 'Olint und Sophronia' von Cronegk am 15. Mai 1767: 'Es ist unstreitig, dass die Schauspielerin durch die meisterhafte Absetzung der Worte „Ich liebe dich, Olint" der Stelle eine Schönheit gab, von der sich der Dichter, bei dem alles in dem nämlichen Flusse von Worten daherrauscht, nicht das geringste Verdienst beimessen kann.'

 

Beim Lesen dieser Stelle musste ich daran denken, wie die Schauspielerin Ehrenstein in unserer Komödie ebenfalls nach einer ähnlichen Pause jedesmal wieder einen starken Effekt erreicht, wenn sie sagt: "Dies wird aber eine andere Geschichte sein, mein lieber Tschechow, denn i c h liebe Sie n i c h t". Das sagt sie mit einem schwingenden, liebenswürdigen, aber sehr direkten Ton.

 

T s c h e c h o w antwortet verblüfft: 'Nein? Und gestern Abend?'

 

S i e: 'Ich habe Sie auch gestern nicht geliebt. Ich habe einfach ein wenig Komödie gespielt.' Das Bemerkenswerte ist nun: Die Ehrenstein sagt diese Worte trotz aller Leichtigkeit mit einer Präzision, dass ihr Partner allein durch ihre Stimmfarbe die Erklärung ihres ungewöhnlichen Verhaltens ihm gegenüber von ihr erhält: Ich mag dich, ich will das aber nicht zugeben.

 

T s c h e c h o w . 'Aber w i e s o haben Sie Komödie gespielt? Nur aus Liebe zum Komödienspielen?'

 

S i e : 'Ja. Ich wollte wissen, ob es mir gelingen kann, etwas glaubwürdig darzustellen, was ich gar nicht empfinde.'

 

Ein verhaltenes Feuer erleuchtet ihr Gesicht, während sie versucht, trotz dieser hingesagten Worte ihr Gefühl für ihn vor ihm zu verbergen.

 

T s c h e c h o w : 'Oh, das ist schon manchen Frauen gelungen! Auch ohne, dass sie große Künstlerinnen gewesen wären!'

 

Diese Beleidigung sitzt. Die Ehrenstein steckt sie ein. Die Augen zur Erde geschlagen sagt sie nach einem langsamen Seufzer in dem furchtsam gezogenen Ton der ehrlichen Verwirrung:

 

S i e . 'Das ... Glaube ich nicht ... Eine Ahnung von dem, was sie in diesen Situationen der Liebe sagen, empfinden alle diese Frauen schon ... Auch wenn sie nicht gerade denjenigen lieben, dem sie es versichern, so haben sie doch irgendeine Erinnerung ...Oder es ist wenigstens eine kleine Liebessehnsucht in ihnen!'

 

Diese Sätze klingen bis zu dem Wort 'Liebessehnsucht´ zärtlich, danach aber kommt dann doch dieses schroff und klar ausgestellte ...

 

S i e . ' M i r f e h l t das alles.'

 

Diese Absage trifft nun wiederum ihn. Schon aber - mit dem nächsten Blick sorglosester Lebhaftigkeit - fügt die Ehrenstein nur mit Hilfe einer Handbewegung hinzu: Sie verstehen mich? Ich spiele hier die Rolle einer Frau, die sich eigentlich nicht erlaubt, jemanden wie Sie zu lieben, aber - mit Ihnen ist in Zukunft vielleicht doch noch eine Liebesgeschichte möglich?

 

Kurz, wenn es auch noch keine richtige Liebesszene ist, so ist es doch bereits die rührende Szene einer schönen, wenn auch noch schüchternen Freundschaft.

 

Nun - aus Anlass der Iwanowskischen 'Erscheinungen' - zu Lessings Meinung über die 'Gespenster am Theater'. Am 5. Juni 1767 schreibt er zum Beispiel über das Stück 'Semiramis' von Voltaire: 'Man schrie, dass man an Gespenster nicht glaube! Ja, ist denn diese Quelle des Schrecklichen und Pathetischen für uns vertrocknet ...?'

 

Für uns, könnte ich antworten, ist sie das nicht. Wir zeigen in den Iwanowski-Einaktern gleich z w e i 'Gespenster': Ein 'Großväterchen Frost' und einen 'Jemand'. Wir zeigen einen Mann, der Anja, der jungen Freundin des alternden Regisseurs, als weihnachtliches 'Großväterchen Frost' erscheint, dem alten Regisseur selbst aber als 'Jemand', der ihm den Tod ankündigt. Eigentlich glauben wir Theaterleute natürlich alle nicht mehr an Gespenster, aber auf ihre poetische Erfindung lassen wir uns doch ein. In der Wirklichkeit glauben wir, was w i r wollen, im Theater aber, was der A u t o r uns glauben m a c h t ... Wenn das 'Kostüm' die auftretende Figur nicht von vornherein zu lächerlich macht.

 

Unser 'Gespenst' soll also weder ein Knecht-Ruprecht-Kostüm tragen, noch einen Totenschädel. Sondern einen simplen Wintermantel.

 

Bleibt die Frage: Wie haben Shakespeare und Voltaire ihre 'Gespenster' präsentiert?

 

Voltaires Gespenst im 'Semiramis-Stück' kam mit einem Donnerschlag mitten am Tag in eine Versammlung der 'Stände des Reiches'. Das hat Lessing gar nicht gefallen. Er weist darauf hin, dass bei Shakespeare der Geist von Hamlets Vater immer erst zur Geisterstunde - und da ohne allen Lärm - allein seinem Sohn erscheint. Nur Hamlet sieht ihn. Nicht die Wächter.

 

So ist es auch bei uns. Die Freundin des Regisseurs sieht unseren 'Jemand' nicht. Nur am Gesicht des alten Regisseurs sehen wir, dass der den Fremden sehr wohl sieht. Und je zerrütteter dieses Gesicht beim Anblick dieses Fremden ist, desto bereitwilliger halten auch wir die plötzliche Erscheinung dieses 'Jemand' für die Ursache der plötzlichen Zerrüttung des alten Regisseurs, genauer gesagt, je bewusster dieser 'Jemand' kein abstrakter Deus ex machina ist, sondern ein realistischer Charakter mit Wintermantel, desto eher akzeptieren wir sein Erscheinen.