Die Wiener Dramaturgie - 3. Stück


Gerald Szyszkowitz

 

DIE WIENER DRAMATURGIE

 der Freien Bühne Wieden, drittes Stück, am 19. 9. 2006

 

Lessing schreibt, das Wichtigste für einen Theaterdirektor ist: Er muss alle Stücke in allen Einzelheiten so gut wie möglich präsentieren, weil der Zuschauer, auch wenn ihm das Stück selbst nicht hundertprozentig gefallen sollte, „doch daran immer zu urteilen lernt".

 

Was heißt das im Einzelnen? Worüber kann man denn bei einer Aufführung urteilen?

 

Beginnen wir mit dem Titel und der Stückbezeichnung. ´Der Maler Schiele aus Tulln´ ist ein ´Volksstück mit Musik´, in dem Leute aus dem Tullnerfeld, also die Marktfrauen, Gendarmen, Gerichtsdiener und andere angesehene Bürger und Adelige - ja, sogar die Richter in der Landeshauptstadt St. Pölten - damit konfrontiert werden, dass ein Maler ´die Leut´ nicht nur in allerlei bunten Kleidern zeichnet, sondern auch ohne ... Fast alle, die damit konfrontiert werden, erregen sich darüber, besonders weil der Maler auch Kinder zeichnet, und erst vor dem Gericht in St. Pölten kann entschieden werden, was daran problematisch ist ... Und warum das so ist.

 

Wenn der Zuschauer diese Grundmaxime akzeptiert hat, worüber soll er dann urteilen? Zum Beispiel darüber, ob der Regisseur die richtige Musik ausgesucht hat.

 

Was sagt der Autor? Er nennt sein Stück ein ´Volksstück mit Musik´. Leute, die also nur den Titel, also das Wort ´Schiele´ wahrnehmen, assoziieren selbstverständlich erst einmal einen Musiknamen wie Schönberg (Schiele hat Schönberg gezeichnet), oder Webern oder Berg, jedenfalls die ´Moderne der Jahrhundertwende´, denn Schiele war ein ´Moderner´, also muss auch die hier geforderte Musik die damals ´moderne´ sein.

 

Aber stimmt das ...? Es geht in diesem Stück nämlich offensichtlich nicht primär um Schieles musikalische Vorlieben, sondern der Autor sieht sein Stück als ein ´Volksstück mit Musik´. Ein Volksstück, das fast immer im Tullnerfeld spielt. Also soll der Regisseur in den Umbaupausen wohl eher Melodien aus der Volksmusik verwenden als die großstädtische Schönbergmusik. Noch besser: Vor den vielen Szenen im Tullnerfeld eine Musik verwenden, mit der die Leute im Tullnerfeld vertraut sind, und vor den paar Wiener Szenen Wiener Volksmusik, wie sie die Wienerberger Stubenmusi so unvergleichlich einfühlsam schon bei unserer Produktion ´Figl vom Tullnerfeld´ gespielt hat.

 

Und wie soll die ´Ausstattung´ sein?

 

In Schieles Atelier wird vor allem eine Staffelei stehen müssen, in den Bürgerzimmern bürgerliche Sessel, im Gendarmerieposten harte Stühle. Alles so wie man es im Tullnerfeld oder in Wien real vorfindet. Nichts darf abstrakt sein, alle Dinge - auch alle Requisiten - die ein Schauspieler während seiner Szenen berührt, müssen real sein. Alles andere würde das realistische Spiel der Schauspieler behindern, und das darf nicht sein, denn das Wichtigste bei der Realisierung eines Textes sind die Schauspieler.

 

W e r aber soll spielen?

 

Lessing schreibt in der Hamburger Dramaturgie: ´Wer über das Ganze die Nase rümpft, wenn in den Nebenrollen ein Anfänger oder sonst ein Notnagel ihn beleidiget, der reise nach Utopien und besuche da die vollkommenen Theater, wo auch der Lichtputzer ein Garrick ist.´

 

Ich bin da ausnahmsweise anderer Meinung. Bei uns muss jeder Notnagel so lange geputzt werden, bis er wie ein Silbernagel glänzt.

 

Zurück zur Besetzung. Aus unserem fiktiven Ensemble von etwa siebzig Personen sucht sich der Regisseur die aus, die im Alter, im Aussehen und im Charakter, die aber vor allem von ihrer Begabung her für die verschiedenen Rollen geeignet erscheinen.

 

Nehmen wir als Beispiel den ´Gendarmen´ im ´Schiele-Stück´. Eine mittelgroße Rolle. Der Mann ist allerdings die stärkste ´Stimme des Volkes´. Also dieser Leute, die den Maler Schiele in die bekannten Schwierigkeiten bringt. Der Gendarm ist also der eigentliche Gegenspieler des Titelhelden. Ich habe die Rolle für Gerhard Rühmkorf geschrieben. Dieser Schauspieler macht es sich zwar selber bei den Proben nie leicht - und dem Regisseur damit auch nicht -, aber in jedem Stück träumt man dann schließlich doch davon, wenn er seine Rolle kurz vor der Premiere wirklich ´hat´, dass er alle anderen Rollen auch noch spielt.

 

So ein Schauspieler muss Herr Ekhof in Hamburg gewesen sein, von dem Lessing schreibt: ´Ein ihm ganz eigenes Talent ist dieses, dass er Sittensprüche und allgemeine Betrachtungen, diese langweiligen Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einem Anstande, mit einer Innigkeit zu sagen weiß, dass das Trivialste von dieser Art in seinem Munde Neuheit und Würde, das Frostigste Feuer und Leben erhält.´

 

Ich denke da zum Beispiel an diesen schwierigen, theoretisierenden Satz aus dem Gesetzbuch, Paragraph 142, den Gerhard Rühmkorf als Gendarm im ´Schiele-Stück´ sagen muss: ´Das Gesetz, Paragraph 142, sieht vor, dass Hausdurchsuchungen stets mit der Vermeidung allen unnötigen Aufsehens, jedweder nicht unbedingt nötigen Belästigung der Beteiligten, mit möglichster Schonung ihres Rufes und ihrer mit dem Gegenstande dieser Untersuchung nicht zusammenhängender Privatgeheimnisse, sowie mit sorgfältiger Wahrung der Schicklichkeit und des Anstandes vorzunehmen sind.´

 

Bei vielen Schauspielern würde der Regisseur hier einen Strich vorschlagen, bei Gerhard Rühmkorf nicht. Was sich hier wie ein trockener Gesetzestext liest, wird in seiner Darstellung sein Charakterkostüm. Aus solchen Wort-Ungetümen gebiert dieser Schauspieler seine jeweils ganz neue, spezielle Bühnen-Figur. Da wird gefärbtes Glas zu Edelstein.