Die Wiener Dramaturgie - 2. Stück


Gerald Szyszkowitz

 

DIE WIENER DRAMATURGIE

der Freien Bühne Wieden, zweites Stück, am 28. März 2006

 

Lessing hat in seiner ´Hamburger Dramaturgie´ in Bezug auf sein Hamburger Theater geschrieben, „nicht alles kann auf einmal geschehen, doch auch was man nicht wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Lang-samste, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert, geht noch immer geschwinder, als der, der ohne Ziel herumirrt."

 

Was ist u n s e r Ziel im sechsten Jahr?

 

Wir wollen weiterhin unaufgeführte Stücke spielen. Den Zuschauern in der Luft liegende Gedanken nahe bringen - auch mit einem so heiteren Stück wie dem ´Süßmayr´ -, aber wir wollen die Stücke vor allem auf ihre Bühnentauglichkeit prüfen. Das heißt, wir wollen Szenen auf der Bühne ausprobieren, Dialoge, Gesichtsreaktionen und Pausen, wir wollen Auftritte und Abgänge so lange ausprobieren, bis wir das Gefühl haben, nun wird das, was der Autor uns erzählen will, für unsere Zuschauer verständlich und spannend.

 

Damit ich es einmal ganz direkt sage: Uns interessieren richtige Theaterstücke. Die uns zeigen, dass ihr Autor eine Ahnung von den spezifischen Theater-gesetzen hat. Denn die Wissenschaft der Bühnendramaturgie und das die Wissenschaft ergänzende Bühnenhandwerk braucht beides: das Wissen um die Wirkung von Handlung und Szene, und das dafür notwendige Handwerk, um diese Wirkung dann nicht zu verspielen. Das kann man am besten bei den wirklichen Theaterpraktikern lernen: Bei Shakespeare, Moliere, Goldoni, Goethe, Schiller, Raimund, Nestroy, Brecht ...

 

Aber abgesehen von aller Bühnentauglichkeit interessiert uns beim ersten Lesen jedes Stückes vor allem:

 

1. die Grundidee; beim ´Direktor Mahler´ zum Beispiel die Frage: Kann man einen mächtigen, begabten Operndirektor mit ständigem Antisemitismus zum Rücktritt zwingen? Beim ´Sindelar´ die Frage: Wie lange kann ein fabelhafter Fussballer die Verführungen von Leuten, die ihn scheinbar auf höchster Ebene fördern wollen, die er aber insgeheim verachtet, abwehren? Oder beim ´Süßmayr´: Was weiß man denn wirklich von Mozarts Tod? Und woran liegt es, dass Frauen ihre Männer abrupt verlassen?

 

2. Die zweite Frage ist: Mit Hilfe welcher Szenen erzählt uns das der Autor?

 

3. Und: Hat er interessante Charaktere erfunden ...? Die rührendste Figur im ´Süßmayr´ ist für mich ´Fritz, ein älterer Schriftsteller´. Weil er so rührend gern geliebt werden will von der ´Schönen´, der Figur, die er selber erfindet. Ja, schließlich erfindet er doch tatsächlich, dass sie ihn trotz des enormen Altersunterschiedes liebt, obwohl er weiß, auch diesmal wird das kein ´ewiges Glück´ ...

 

Die schönste Figurenerfindung im ´Sindelar´ ist für mich der ´Herr Nekovar´. Der immer Optimismus zu verbreiten versucht, bis er plötzlich nicht mehr optimistisch sein kann und sich umbringt.

 

Meine Lieblingsfigur im ´Direktor Mahler´ ist die von mir erfundene Journa-listin Schalek. Im Vorbildstück von Arthur Schnitzler ist die entsprechende Gegenfigur des Professor Bernhardi der Pfarrer Franz Reder, aber im Fall Mahler gibt es keine Kirchenreaktionen, da musste ich aus dem kirchlichen Bernhardi-Antisemitismus einen journalistischen machen ... Kurz, die beiden Gegenspieler kommen sich bei Schnitzler - wie auch bei mir - sehr nah, ohne dass sie aber trotz aller Sympathie den weltanschaulichen Graben am Ende ihrer jeweiligen großen Szene überspringen können.

 

Um die Dialekte-Vielfalt der damals noch sehr weiten österreichisch-ungarischen Monarchie mitspielen zu lassen, suchte ich, parallel zum - allen Wienern aus ihrer jeweiligen Umgebung bis heute wohl vertrauten - sanften Böhmakeln des Brünners Alfred Roller für die Schalek ein extremeres, verfremdenderes, verstörenderes Sprachkostüm, und da die Schauspielerin in ihrer Freizeit Russisch lernt, haben wir uns als Heimatort der Figur Lemberg gewählt, und die Schauspielerin hat - mit ihrer Lehrerin - nun den spezifischen Akzent dieser Russischlehrerin aus Lemberg-Lwow detailgenau einstudiert.

 

Ein liebenswerter, hochbegabter Tiroler Kritiker schrieb dann leider in Unkenntnis all dieses - in einer in Wien weit verbreiteten Zeitung - etwas von einem ´russisch-ungarischen Operettendialekt´. Das ist insofern allerdings verständlich, als man - zum Unterschied von Leuten wie mir, die ja in noch nicht gar so lang zurückliegenden Zeiten in einer russischen Besatzungsszone gelebt haben - im fernen Innsbruck in den Nachkriegsjahrzehnten die russische Sprache offenbar wirklich nur noch in den k. und k. Operetten gehört hat ... Die heutigen Tiroler Schilehrer hören, sagt man, schon wieder viel mehr ´richtiges Russisch´.

 

Außerdem hätte ich es wirklich viel platter gefunden, wenn ich zum Beispiel den jüdischen Hofoperndirektor etwa ´Süß´ genannt hätte und ihn jiddeln hätte lassen, und wenn ich dafür - worüber sich niemand aufgeregt hätte, weil niemand das bemerkt hätte - der deutschnationalen Journalistin den treudeutschen Namen Maler oder Schuster gegeben hätte, und sie ein tadelloses Hochdeutsch hätte sprechen lassen, oder?

 

Ich meine, es ist dramaturgisch viel raffinierter, dass der Jude den deutschen Namen Mahler trägt und ein exzellentes Hochdeutsch spricht - das er sich in langen Anpassungsjahren an der Hamburger Oper etc . angelernt hat -, dass die deutschnationale Journalistin aber den slawischen Namen Schalek trägt und einen ostslawischen Dialekt spricht. Einen aus den östlichsten Weiten der weiten Monarchie, wo man damals noch viel genauer wußte als in der Haupt- und Residenzstadt Wien, warum ´man´ nie mehr in einem jiddischen Städtl ´leben mecht´?

 

Dieses Stück war nie als hochdeutsche Juxpartie geplant. Man sollte in dieser Aufführung ahnen können, dass die widerlichsten österreichischen Nazis später nicht die Hansi Müllers waren, sondern die Odilo Globocniks.

 

4. Nach dem Grundeinfall, der Szenenqualität und der Charaktererfindung ist die vierte entscheidende Sache, wenn man ein Stück annimmt: Die Schauspieler müssen an ihrer Arbeit Freude haben! Ohne Freude geht gar nichts. Nur Beleh-rung und Ernsthaftigkeit ist zu wenig. Für die Schauspieler u n d für das Publikum. Sicher, ganz ernsthaft würde ich ja heutzutage auch nicht vertreten - wenn wir an unser Stück ´Süßmayr oder Die Rückkehr ins Serail´ denken -, dass christliche Frauen sich in einen muselmanischen Harem zurückbegeben sollten, weil ihre christlichen Ritter sie leichtfertig beim Kartenspielen an andere Männer verspielt haben, aber mit sachter Ironie darüber nachzudenken, warum heutzutage Frauen ihre Männer so oft stante pede verlassen, das ´hat schon was´.