Die Wiener Dramaturgie - 11. Stück


Gerald Szyszkowitz

 

DIE WIENER DRAMATURGIE

der Freien Bühne Wieden, elftes Stück, am 12. Februar 2008

 

WORAUF MUSS DER REGISSEUR BEIM ´FALL DER REICHSBRÜCKE´ ACHTEN?

 

1. Szene: Die BEZIEHUNGEN

Der Regisseur muss vor allem auf die BEZIEHUNGEN zwischen den Figuren achten. Die erste Szene spielt in der Wohnung des Professors Plach. Er erklärt seiner Frau, dass die Reichsbrücke, wenn sie so fertiggebaut wird, wie es geplant ist, über kurz oder lang in die Donau fallen muss. - Für die Inszenierung ist nun wichtig, dass die Art der Beziehung zwischen Plach und seiner Frau Franziska von vornherein klargestellt ist. Die beiden sind verheiratet, ja, aber das bringt noch keine Emotion ins Publikum. Wir müssen zeigen, dass die Frau nicht nur verheiratet ist, sondern dass sie auch starke Gefühle für ihn hat. Dass sie ihn sehr liebt. Sie hat ihn wohl immer schon geliebt, aber in dieser Szene liebt sie ihn von Minute zu Minute noch stärker, je klarer ihr wird, dass er in einer Krise ist, und dass sie ihm jetzt helfen muss ... Und er wiederum darf nicht nur zeigen, dass er fanatisch mit dem Brückenplan beschäftigt ist, er muss auch zeigen, dass er durchaus - unter normalen Umständen - zu dieser nächtlichen Stunde mit seiner Frau ins Bett gehen würde wollen, dass die Sorge um die Brücke aber im Moment immer stärker wird ... Denn wenn es nur um die Brücke geht, wird die Szene kalt, flach und emotionslos. Es muss zwischen den beiden auch immer um die Liebe gehen. Sonst ist die Frau nur eine Stichwortbringerin für das Thema Brückenbau. In ihr müssen zwei starke Interessen miteinander kämpfen: Sie will ihn ins Bett bringen, will ihm aber auch in seiner Not helfen, eine Lösung für sein Brückenproblem zu finden.

 

2. Szene: Die KONFLIKTE

Der Regisseur muss immer wieder auf die KONFLIKTE achten. Gerade in dieser zweiten Szene, die in der Mittagspause auf dem Kantinengang des Handelsministeriums spielt, erkennen wir, dass die beiden Herrn ganz verschiedene Dinge wollen. Dr. Pangert, der Rektor der Technik - sichtlich ein illegaler Nazi - möchte unbedingt nach Berlin versetzt werden, weil er fürchtet, dass er sonst früher oder später doch ins Lager Wöllersdorf gesteckt wird, und der Sektionschef Dr. Ritzka - sichtlich ein Schuschniggianer - will erreichen, dass Pangert diesem ´wahnsinnigen Plach´ klarmacht, wie der sich verhalten soll. - Der Schauspieler des Pangert muss uns in diesem Konflikt klarmachen, dass er im Grund nur etwas will: Nach Berlin. Darum kämpft er. Alles andere ist ihm mehr oder weniger egal. Und der Schauspieler, der den Ritzka spielt, muss für die ´Ruhe im Staat´ kämpfen. Da darf niemand randalieren. Das heißt: Es darf niemand die Weisheit der Leute in Frage stellen, die diesen österreichischen Staat regieren. Wer sich an dieses Gebot nicht hält, kommt nach Wöllersdorf, heiße er nun Pangert oder Plach. Sektionschef Ritzka weiß genau, wenn die Nazis an die Regierung kommen, kommt allerdings er selber nach Wöllersdorf. Das ist seine starke Motivation, so zu agieren wie er agiert. Er weiß, es ist ernst. Es geht ums Leben. Auch um seines. Wenn er nicht aufpasst. Er nimmt jede Reaktion seines Gegenübers wichtig. Er ist kein charmanter altösterreichischer Beamter. Er ist deswegen Sektionschef geworden, weil er cleverer ist als alle anderen hier im Haus. Weil er mit mehr Phantasie zuhört. Er weiß, dass es mit diesem Pangert einen Konflikt geben wird, also sucht er ihn schon im ersten Satz. Er wird nichts ´ausbügeln´. Dem Plach muss umgehend klar gemacht werden: Die Regierung will diese Brücke, und also ist das eine gute Brücke.

 

3. Szene: Der MOMENT DAVOR

Die dritte Szene ist der berühmte und immer wieder sehr wichtige MOMENT DAVOR. Bevor Plach also auftritt, hat er beschlossen, sein ganzes Leben zu ändern. Er kommt in seine Wohnung, um seiner Frau zu sagen, dass er das Problem, über das er in seiner Vormittagsvorlesung seinen Studenten ´durch die Blume´ einiges erzählt hat, heute in der Abendveranstaltung direkt ansprechen wird. Die Hintergrundgespräche sind für ihn nun also endgültig vorbei, alles spitzt sich zu, ja, er hat sich entschlossen, rücksichtslos in die Öffentlichkeit zu gehen. Darum geht er jetzt wie auf Wolken. Ihn beflügeln geradezu seine Hoffnungen und Träume, denn er nimmt an, dass die Wirkung seiner Entdeckung enorm sein wird. Sein öffentlich-es Anprangern der ´verbrecherischen staatlichen Vorgangsweise beim Bau dieser Unglücksbrücke´ wird Gott und die Welt aus dem Schlaf des Vertrauens aufscheuchen, denkt er ... Zum Unterschied von seiner Schwägerin. Die hat schlicht Angst, dass er sich wieder einmal zu viel auflädt. Und sie hat Angst, dass man ihm weh tun wird. Wenn er den Mächtigen widerspricht.

 

4. Szene: Der HUMOR

Entscheidend für den Erfolg jeder Uraufführung ist, ob das Stück HUMOR hat. Spätestens in der 4. Szene, der Szene in der Technischen Hochschule, muss der Regisseur auch den Humor des Textes aufspüren und herausarbeiten. Der Humor eines Stückes hat nichts mit eventuellen Witzen zu tun, über die das Publikum lacht, der Humor des Stückes liegt in den Versuchen der Figuren, mit den Absurditäten des Lebens fertig zu werden. Natürlich scherzt der Dekan Schmirz, wenn er sagt, Plach verfälsche seine intellektuelle Position um so mehr, je genauer er argumentiere ... Mit diesem vifen Satz hofft er, Plach von seinem Vorhaben abzubringen, in seiner Vorlesung einen Skandal zu provozieren. Schmirz heroisiert Plach so sehr, dass das schon wieder komisch wirkt, wenn er sagt: „Sie zelebrieren das Risiko, statt es heroisch anzunehmen ... Wir sind dazu da, der Gesellschaft die Angst vor dem Risiko zu nehmen, nicht das Risiko selbst ..." Und wie reagiert Plach? Auch er wird ironisch. Da Schmirz ein ´weiß Gott´ in seine Suada einfließen lässt, antwortet Plach: „Das Wissen Gottes, das Sie soeben strapaziert haben, wäre das Ziel der Wissenschaft, ja, aber vorläufig können wir uns nur auf unsere Berechnungen verlassen." Kurz: Die Qualität jedes Theaterstücks hängt sehr wesentlich ab von der Ironie des Textes.

 

5. Szene: Die GEGENSÄTZE

Gleichmaß ist immer langweilig. Wichtig sind die GEGENSÄTZE. In der 5. Szene, der ´Szene in der Brücke´ sind das zum Beispiel schon die Personen. Der eine ist ein intellektueller Professor, der andere ein einfacher Arbeiter. Zweitens ist andauernd vom ´Bauen´ die Rede, gleichzeitig aber auch vom ´sicheren Zusammenbrechen´. Drittens: Plach sagt, er könne jetzt gar nichts mehr tun. Der Arbeiter sagt: Plach müsse jetzt erst recht alles tun, um die Katastrophe zu verhindern ... Und so weiter. Die ganze Szene besteht aus dem ständigen Herausarbeiten der Gegensätze.